Die krasse Emmy

Emily Bölk (Foto Janice Bücker)Sie ist 16 Jahre jung und fraglos der – im wahrsten Sinne des Wortes – „Shooting“-Star des deutschen Frauenhandballs: Emily Bölk vom Buxtehuder SV. FAZ-Mitarbeiter Frank Heike, auch als Autor für das Handball-Magazin (HM) tätig und zudem Mitglied unseres Kooperationspartners Medienmannschaft, hat das große Talent portraitiert – der HHV darf die HM-Geschichte übernehmen.

Es ist wirklich charmant, wie Emily Bölk ihr Unbehagen vor der Spanisch-Klausur am nächsten Morgen weglächelt. „Ich bin gut in Sprachen“, sagt sie fröhlich, „aber Spanisch, das liegt mir irgendwie nicht mehr so. Ich habe während meines Jahres in Dänemark kein Wort Spanisch gesprochen.“ Dieser sprachliche Rückstand aus der Saison 2012/2013 lässt sich kaum mehr aufholen. Allerdings ist kein besonders schlimmer Absturz zu befürchten – Emily Bölk hofft auf eine „schlechte Drei“, sieben Punkte also, und das spricht dafür, dass doch ein paar Vokabeln und ein wenig Grammatik hängen geblieben sind. Überhaupt sei sie eine gute Schülerin, erzählt Emily Bölk aus der elften Klasse des Buxtehuder Gymnasiums Süd. Vor allem jetzt, wo gut anderthalb Jahre vor dem Abitur die Problemfächer Physik und Chemie abgewählt sind.

Ihre Eltern Andrea und Matthias Bölk sind froh, dass ihre 16 Jahre alte Tochter gut durch die Schule kommt. Wäre es anders, könnte Emily kaum derart im Handball durchstarten, wie sie es gerade macht. Es stürzt gerade einiges auf die junge Frau mit den grünen Augen und den langen braunen Haaren ein – wobei sie selbst im Gespräch am Wohnzimmertisch des elterlichen Hauses am Rande Buxtehudes keinesfalls aufgeregt oder stressgeplagt wirkt. Eher clever, freundlich und zielorientiert. Sehr reif wirkend, mit ihrer modischen, großrahmigen Brille. Aber das mag in anderen Momenten anders sein, wenn auf dem Schulhof herumgealbert wird, zum Beispiel.

Jedenfalls gilt diese 184 Zentimeter lange Rückraumspielerin als größtes deutsches Talent. Dass sie gut ist, wissen hier und beim DHB alle – seit Jahren. Wer schon als Baby mehr Zeit in der Handballhalle zubrachte als zuhause, dem ist das Generationenhobby buchstäblich in die Wiege gelegt. Andrea Bölk, Jahrgang 1965, wurde vor 21 Jahren in Norwegen Handball-Weltmeisterin. Andrea Bölks Mutter, Emilys Oma, war DDR-Nationalspielerin. Vater Matthias Bundesligaspieler beim VfL Fredenbeck. Das sind die Gene, das war die sportliche Sozialisation.

Bei der U18-Weltmeisterschaft im Sommer in Mazedonien paarte sich beides aufs vortrefflichste: Emily Bölk wurde (mit gerade 16 Jahren) als Teil der deutschen Silbermedaillen-Mannschaft zur wertvollsten Spielerin des Turniers gewählt. Vor allem ihre 22 Tore im Achtelfinale gegen Portugal stachen hervor.  Emily Bölk sagt: „Meine vielen Tore waren ein Resultat unsere Mannschaftsleistung. Wir hatten einen tollen Teamgeist. Der hat uns durchs Turnier getragen. Unser Trainer Frank Hartmann hat uns vor den Spielen immer ein Best-of-Video gezeigt. Das hat alle motiviert. Wir hatten nie damit gerechnet, so weit zu kommen.“

Von einer „Leistungsexplosion“ ihrerseits möchte Bölk nicht sprechen: „Gegen Portugal hat einfach alles funktioniert. Es war ein Spiel mit vielen Toren und zweimaliger Verlängerung. Ich habe auch ein paar Siebenmeter geworfen.“ Sie schätzt sich ohnehin realistisch ein, kennt aber durchaus ihre Stärken. Wohin ihr Weg geht, war schon vor der WM klar – Dirk Leun, Trainer des BSV in der Bundesliga, hatte signalisiert, dass sie ab dieser Saison zum Erstliga-Kader gehören würde. Es ist mehr als das geworden, denn Emily Bölk gehört nicht nur dazu. Sie spielt mit. Sie wirft Tore. Und man merkt, wie viel Freude es ihr bereitet. „Ich lerne richtig viel. Ich brauche Rückmeldung, und die bekomme ich von den erfahrenen Spielerinnen. Sie können mir so viel zeigen“, sagt sie. Auch die Doppelfunktion gefällt ihr: „In der A-Jugend bin ich Führungsspielerin, da habe ich ganz andere Aufgaben als bei den Frauen.“

Emily Bölk setzt zum Sprungwurf an (Foto Dieter Lange)Beim BSV weiß man natürlich, wen man da in den eigenen Reihen hat. Bei Trainer Leun genießt sie noch „Welpenschutz“, wird behutsamer angefasst als die Stützen der Gesellschaft. Im Kreis der Spielerinnen sieht man in Emily Bölk auch schon die kommende Waffe. „Sie ist körperlich unheimlich weit und hat großes Talent. Das ist wirklich krass“, sagte Kapitänin Isabell Klein, „wir wollen sie auf keinen Fall verheizen.“

„Krass“ finden auch Emily Bölks Mitspielerinnen ihr Pensum. 36 Wochenstunden wie alle anderen hat sie in der Schule zu bewältigen, da gibt es kein Vertun und auch keine bevorzugte Behandlung. Dass ihr Sportlehrer Fan des BSV ist und die Heimspiele schaut, ist zwar schön, hilft ihr ansonsten aber auch nicht weiter. Schule, Handball, Schule, das ist der Tagesablauf. Und deswegen ist ihr Grundzustand: müde.  Der Mittagsschlaf ist da einfach obligatorisch. Danach ist sie wieder frisch für das nächste Training. Und abends, oder besser; nachts, wenn sie bis 23.30 Uhr vor den Büchern sitzt, fallen schon mal die Augen zu. Dann ist endlich Ruhe bei den Bölks, zu denen auch noch Emilys drei Jahre jüngere Schwester Joelle gehört.

Bis zur Reifeprüfung wird sich an dieser Agenda wenig ändern. Deswegen muss Emily Bölk leider absagen, wenn die Freundinnen ins Kino gehen oder mal nach Hamburg fahren. „Mensch, Emmi, es ist echt krass, wie du das mit deinem Handball durchziehst“, sagen sie dann – sind aber weder neidisch noch vorwurfsvoll sondern eher verstohlen-stolz, wenn sie die Mitschülerin am Samstagabend bei Heimspielen des BSV unten auf der Platte sehen. Zum Glück gibt es in der langjährigen Jugendfreundin und Mitspielerin Natalie Axmann eine gleichgesinnte, die alles noch ein bisschen besser versteht.

Mit Natalie Axmann, der Tochter von Andrea Bölks 93er-Teamkollegin Heike Axmann, begab sich Emily Bölk auch im Sommer 2012 auf eine aufregende Reise. Ein Jahr Handballinternat Viborg lag vor den beiden. Eine prima Zeit, findet Emily Bölk. „Andere gehen in die USA oder nach Neuseeland. Das finde ich auch toll. Aber mit dem Handball wäre es dort schwer  geworden“, sagt sie. Im Leistungszentrum des dänischen Topklubs wurde nicht nur Handball gelehrt, sondern auch nordische Lebensart. Weniger Hektik, mehr Zeit füreinander. Ein Leben in niedrigerer Geschwindigkeit mit dem Blick aufs Wesentliche. Handball. Von morgens bis abends. „Der dänische Handball ist schneller als bei uns“, sagt sie, „es wurde da ständig an Spielwitz und Spielverständnis gefeilt.“ Die Athletikausbildung wurde dabei nicht vergessen. Aber auch anderes nahm sie mit. Dänisch hatte sie schon nach drei Monaten gelernt. Selbstbewusster, reifer kehrte sie im Sommer vor einem Jahr zurück.
Und nun geht die Lehre weiter. Bei den „Großen“. Bei der Abwehrarbeit möchte sie dazulernen, um eine komplette Handballerin zu werden.  Manchmal fehlt ihr da noch das Timing, wann sie raus auf eine Angreiferin gehen soll, wann zurückbleiben besser ist. Vorn, im Angriff, findet sie sich im Sprungwurf schon ganz gut. Der Schlagwurf ist noch zu verbessern. Man spürt Emily Bölks Ehrgeiz, diese Technik möglichst bald zu beherrschen: „Das ist einfach ein cooler Wurf“, sagt sie. Jedes Tor, das so zustande kommt, freut sie besonders. Von den Eltern bekommt sie produktive Tipps, mit denen sie etwas anfangen kann: „Meine Mutter hat mir gesagt, ich solle mehr mit meinen Nebenleuten in der Kleingruppe sprechen.“

Emily Bölk kann ganz gut einschätzen, wo sie sich als Handballerin gerade befindet. Sie will jetzt kleine Schritte machen. In der Frauen-Bundesliga Fuß fassen, in der A-Jugend ihre Hauptrolle spielen. Die Nationalmannschaft? Sie lacht. „Da muss ich ordentlich ran. Langfristig ist das natürlich mein Ziel. Aber es ist noch weit weg.“ Natürlich weiß sie von der Heim-WM 2017, und Bundestrainer Heine Jensen hat sie auch schon kennen gelernt. Bei einem Nachwuchs-Lehrgang in Kienbaum. Bis zum Abitur will sie auf jedem Fall in ihrer hübschen Heimatstadt spielen. Hier passt derzeit alles; die Entfernungen sind überschaubar. Was danach passiert – wer weiß das schon? Einen Job im Event-Management könnte sie sich vorstellen, vielleicht aber auch etwas ganz anderes. Wer wollte ihr das verdenken, wo sie noch nicht einmal auf die Wahl Studium oder Ausbildung festlegen lassen möchte?

Es ist ja auch wenig Zeit, mal einen klaren Gedanken zu fassen über die Zukunft. Immerhin gibt es da auch noch Joshua Thiele, ihren Freund. Der spielt für die TSV Burgdorf in der A-Jugend-Bundesliga am Kreis und ist ebenfalls Nachwuchs-Nationalspieler. „Man kann nicht sagen, dass wir uns sehr oft sehen“, sagt Emily Bölk. Aber wenn, versichert sie, gebe es auch andere Themen als Handball.